Gemeinschaftsleben heute: Illusion - Notwendigkeit - Möglichkeit?

 
Kurzreferat zur Unitarier-Morgenfeier am 6.2.1977 in München 

Illusion ist es, zu glauben, wir wüßten ein allgemeingültiges Patentrezept für ein ideales Gemeinschaftsleben.
Illusion ist es, zu glauben, wir könnten heute wieder so leben wie in früheren (angeblich besseren) Zeiten.
Illusion ist es, zu glauben, wir könnten unsere bestehende Gesellschaft insgesamt zu einer Gemeinschaft hin verändern.

Illusion ist es aber auch, anzunehmen, wir würden an einem unseren Möglichkeiten und Erfordernissen entsprechenden optimalen Gemeinschaftsleben teilhaben.
Illusion ist es auch, anzunehmen, es wäre nicht nötig, an unserer derzeitigen Lebensweise etwas zu ändern.
Illusion ist es ebenfalls, anzunehmen, nicht jeder von uns wäre in der Lage, an seinem derzeitigen Gemeinschaftsleben etwas zu verbessern.

Notwendigkeit:

Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Er wird zum Menschen nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen und er kann seine Persönlichkeit mit all ihren Fähigkeiten auch nur optimal in einer ganzheitlichen Gemeinschaft entfalten. Es besteht eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Stabilität der Gemeinschaft und der Stabilität der Persönlichkeit. Diese Stabilität beider kann nur im gegenseitigen ständigen Bemühen darum erhalten werden. Der Preis für die Stabilität meiner Persönlichkeit, welche die Grundlage für mein Wohlergehen ist, ist mein Bemühen um die Stabilität der Gemeinschaft. Eine optimale Gemeinschaftsform ist eine ganzheitliche, eine Lebensgemeinschaft, die so groß ist, daß sie die nötige Vielfalt der verschiedenen Menschentypen und Altersstufen bietet, und die so klein ist, daß eine persönliche, vertrauensvolle Beziehung untereinander, eine Überschaubarkeit gewährleistet ist.

In dieser Gemeinschaft können die Menschen mit ihren verschiedenen, oft einseitigen Anlagen, sich gegenseitig sinnvoll ergänzen und ausgleichen. Diese Gemeinschaft ermöglicht die Entwicklung des Einzelnen zu größtmöglicher Eigenständigkeit und verhindert das Entstehen von Einseitigkeit und Vereinsamung. Solche Gemeinschaften können durch Zusammenarbeit miteinander bestmögliche Grundlage für die Stabilität der Gesellschaft sein.

In unserer derzeitigen Gesellschaft ist die Kleinfamilie vorherrschend, vermutlich durch die bisher vorwiegend analytische Denkweise der Wissenschaft und die arbeitsteilige Erwerbswelt beeinflußt. Diese Kleinfamilie umfaßt nicht mehr das gesamte Gemeinschaftsleben, dieses ist in verschiedene Teilbereiche aufgespalten, einmal personell, Großeltern, Verwandte, Bekannte sind ausgeklammert, und zum anderen räumlich und zeitlich, Kindergarten, Schule, Erwerbstätigkeit, teilweise auch Freizeit liegen außerhalb der Gemeinschaft. Aus der Lebensgemeinschaft entstanden Gemeinschaften mit einem eigenen Gemeinschaftsleben, das nur noch Teilbereiche des Lebens umfaßt und durch ständige Verselbständigung immer weniger Bezug zu den übrigen Teilbereichen hat.

Es entstanden neben der Familie als Gemeinschaft die Kindergartengemeinschaften, die Klassengemeinschaften der Schule, die Betriebsgemeinschaften im Erwerbsleben, die Interessengemeinschaften wie Sport, Kultur, Politik usw., die Gemeinschaften der Alten und der Kranken.

Die Zerteilung führte zu einer Lockerung der Beziehungen zwischen den Menschen und zum Verlust der soliden Grundlage der Stabilität der Persönlichkeit. Unsere heutigen Probleme in der Gesellschaft sind nicht so sehr die technischen und auch nicht die finanziellen. Die größten Probleme liegen heute im psychischen Bereich der Menschen. Die zunehmende Kriminalität ist das markanteste Zeichen der Krankheit unserer Gesellschaft. Alkohol, Rauschgift, Selbstmorde bei Jugendlichen sprechen eine deutliche Sprache. Auch die scheinbar intakte Kleinfamilie kann ihre Kinder heute kaum noch dem allgemeinen Trend der Gesellschaft entziehen, sie läßt genau so, mehr oder weniger labile Persönlichkeiten heranwachsen wie die übrigen, neurotisierenden Kleinfamilien.

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß wir eher skeptisch denn zuversichtlich die Zukunft unserer Kinder sehen und ihnen wenig Optimismus und Begeisterung vorleben können.

Wie sehen nun die Möglichkeiten aus?

Meines Erachtens liegt der Schlüssel für die Verbesserung der bisherigen Situation in einer übergeordneten Zielsetzung, in einer befriedigenden Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Ein für uns erkennbarer Sinn kann es sein, Mensch zu werden, Mensch zu sein und Mensch zu bleiben.

Da dies nur in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen möglich ist, ergibt sich daraus die Erkenntnis, daß ein erstrebenswertes Ziel nur in dieser größeren Gemeinschaft liegen kann. Wenn wir dieses Ziel erkannt haben und von dessen Richtigkeit überzeugt sind, werden sich für uns unbegrenzte Möglichkeiten auftun. Sie werden dann nur begrenzt von unserer Angst und Unsicherheit. Wir setzen uns selbst die Grenzen, denn noch nie war unsere Gesellschaftsordnung so frei für neue Initiativen wie heute.

Um unsere Grenzen zu erkennen, müssen wir zunächst einmal Inventur machen. Wo stehen wir jetzt? Wie weit reicht unser Bewußtsein, räumlich, zeitlich? Welche Ziele haben wir, Nahziele, Fernziele?

In welcher Verfassung befinden wir uns? Fühlen wir uns überfordert? Sind wir in der Lage, zu geben, zu helfen, zu dienen? Sind wir bereit, uns und anderen unsere Schwächen, unsere Unzulänglichkeiten, unsere Ängste einzugestehen? Können wir zuhören, annehmen, was der andere uns sagt? Können wir uns helfen lassen?

Haben wir Gelassenheit, Offenheit? Stimmt das Bild, das wir uns selbst über uns machen mit dem, das sich andere über uns machen, überein?

Fragen, die nicht leicht, die meines Erachtens aber sehr wichtig sind, wenn wir unser Leben aktiv und nicht nur reaktiv bzw. passiv leben wollen.

Wir haben die Möglichkeit einer Religionsgemeinschaft, die von ihrem Namen her ein ganzheitliches Denken zuläßt, die Toleranz und Humanität vertritt. - Wie haben wir diese Möglichkeiten bisher genutzt? Wie weit haben wir danach gelebt? Wie weit war es nur Lippenbekenntnis? Auch hier sollten wir uns offen fragen, um unser Verhältnis zu dieser Religionsgemeinschaft zu überprüfen: Warum bin ich dabei? Was erwarte ich, was stört mich? wie stark will ich mich einsetzen? wieviel möchte ich hineingeben, wieviel herausholen?

Diese Fragen sind für uns, vor allem aber für die Gemeinschaft wichtig, weil es deren Klima sehr beeinflußt, ob wir nur mit halbem Herzen dabei sind, oder ob wir deren Sache ganz zu der unseren machen. Niemand soll mehr tun als er kann und will, aber was er tut sollte er gern tun!

Welche Möglichkeiten haben wir nun konkret?

Bisherige Möglichkeiten waren: Der Religionsgemeinschaft als Interessent anzugehören, als Spender, als beitragszahlendes Mitglied, als gelegentlich Veranstaltungen besuchendes, als regelmäßig Veranstaltungen besuchendes Mitglied, als Helfer bei Vorbereitungen zu Veranstaltungen, als Vorstandsmitglied.

Wenn jemand wirklich nur beitragszahlendes Mitglied sein kann und will und dies gern ist, dann ist das gut. Er soll sich dann nicht genötigt fühlen, mehr zu tun, weder durch den Anblick gestreßter Vorstandsmitglieder, noch durch die Erkenntnis, daß seine so praktizierte Mitgliedschaft weniger mit Gemeinschaft, als vielmehr mit Verein zu tun hat. Er sollte aber weitere Möglichkeiten zur Kenntnis nehmen. Möglichkeiten, die von anderen Gemeinschaften bereits seit Jahren erfolgreich praktiziert werden:
 

  • Die Gemeinschaft ganz zu meiner Sache machen, zum Mittelpunkt meiner Bemühungen,

  • mein Privateigentum der Gemeinschaft weitgehend zur Verfügung stellen,

  • Übernahme gegenseitiger Patenschaften für Mitglieder,

  • regelmäßige Gemeindeversammlungen mit Aussprachen über persönliche Anliegen und Probleme im Mitgliederkreis,

  • gemeinsames Wohnen in gemieteten Häusern,

  • gemeinsamer Kauf von Häusern,

  • Gründung einer Spar- und Kreditgenossenschaft,

  • Einrichtung von Produktions- und Handelsbetrieben

  • und dergleichen mehr.

Gemeinschaftsleben mit dem Ziel der ganzheitlichen Lebensgemeinschaft - Illusion, Möglichkeit oder Notwendigkeit?

Für viele wird es Illusion sein, für manche eine Möglichkeit und sicherlich nur für wenige eine Notwendigkeit. Wenn diese Wenigen im gesamten Bundesgebiet einen Intensivkreis bilden und beginnen, die Möglichkeiten zu praktizieren, dann wird für viele die Möglichkeit zur Notwendigkeit und für manche die Illusion zur Möglichkeit.

Was hindert uns, den ersten Schritt zu tun? Was haben wir zu verlieren? Eigentlich können wir doch nur gewinnen!

Rudolf Kuhr

Es macht den Wert
und das Glück des Lebens aus,
in etwas Größerem aufzugehen,
als man es selbst ist.

Teilhard de Chardin, Anthropologe (1881-1955)

 

leben lieben lernen
 
ich möchte mit dir träumen
   ohne den Moment zu versäumen
ich möchte von dir gehen können
   ohne dich zu verlassen
bei dir sein
   ohne von mir wegzugehen
ich möchte dich loslassen
   ohne dich zu verlieren
mich fallenlassen
   ohne zu stürzen
mich geben
   ohne mich aufzugeben
dich nehmen
   ohne dich einzuvernehmen
ein wir lernen
   ohne mein ich und dein du zu verlernen
ich möchte mich zeigen
   ohne mein Gesicht zu verlieren
dich sehen
   ohne ein Bild von dir zu haben
ich möchte
dich und mich
lieben leben lernen

Quelle: taz 15.05.1981

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Humanistische AKTION
11/1999 
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Aktualisiert am 23.10.11