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1.2 Der engere Umkreis

 

Dem heranwachsenden Kind kommt allmählich zum Bewußtsein, daß die Welt nicht nur aus Mutter, Vater und Geschwistern besteht, sondern daß es auch ein "Draußen" gibt. Neben, über oder unter den Räumen der eigenen Familie leben andere Menschen, mit denen man in Berührung kommt. Manche kommen herein und sprechen mit den Eltern - und auch zum Kind. Andere trifft man, wenn man mit der Mutter oder einem anderen Familienangehörigen die Wohnung verläßt; man grüßt sich und unterhält sich. Oder man betritt eine andere Wohnung, wird empfangen, erfährt Aufmerksamkeit und vielleicht auch Hilfe.

Im Rahmen eines sich ständig erweiternden Erkenntnisvorgangs lernt das Kind räumliche Ordnungs­einheiten zu unterscheiden: die eigene Wohnung, die man verschließen kann; Wohnungen anderer Familien, die verschlossen sind und sich öffnen können; ein Haus mit Fluren und Treppen, die trennen und verbinden; vielleicht auch einen Garten mit Rasen, Blumen und Bäumen und einem Zaun. Man erkennt, daß die Innenwelt der Familie von einer Außenwelt umgeben ist. Wenn man aber mit der Mutter - oder wem auch sonst - ausgeht oder ausgefahren wird, dann erlebt man Häuserreihen oder einen Wohnblock, eine Straße mit Verkehr und Geschäften, eine Ortschaft mit dörflicher oder städtischer Eigenart. Eine in vielem fremde, schwer verständliche und beunruhigende Umwelt tut sich auf.

Gleichzeitig lernt man immer neue und immer mehr Personen kennen: Nachbarsfamilien, manche mit Kindern; Verwandte, die zu Besuch kommen und einem vertraut werden; Kinder auf einem Spielplatz; Schulkinder einzeln oder in Gruppen. Auf der Straße sieht man Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer, in den Läden Verkäufer und Kunden. Eine verwirrende Vielfalt von Menschen wird erkennbar: Frauen und Männer, Junge und Alte, Ruhige und Hastige, Arme und Reiche, Freundliche und Unfreundliche. In ganzen Gruppen tauchen sie auf: Kirchgänger, Sportler, Kindergarten- und Schulkinder, Demonstranten. Auffallende Erscheinungen machen sich lautstark bemerkbar: Polizei, ein Notarzt, die Feuerwehr.

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Die Welt und die Gesellschaft, in die sich das Kind zunächst im Rahmen der Familie eingliedert, werden jetzt für das Kind räumlich und personell umfassender. Es ergänzt und erweitert den Kreis seiner Vorstellungen und Erkenntnisse. Auch sein Gefühlsleben wird bereichert und vertieft; es entsteht Zuneigung oder Ablehnung, etwa zu Verwandten oder Nachbarskindern, die sich zu Freundschaft oder auch Haß steigern können.

Auch die wirtschaftliche Seite des Lebens wird jetzt für das Kind sichtbar. In der Familie als Wirtschafts­gemeinschaft lernt es genügsam oder anspruchsvoll, in Mangel oder Überfluß zu leben. Selten nur noch kann es heute Berufstätigkeit in der Familie erleben: in der Landwirtschaft etwa, im mittelständischen Gewerbe oder beim zu Hause praktizierenden Arzt. Dann vermitteln die Arbeit und Stellung des Vaters und die Zusammenarbeit der Mutter mit ihm dem Kind starke Eindrücke. Meist aber wird der Vater, manchmal auch die Mutter, zur Berufsausübung lange abwesend sein und beim Nachhausekommen Ermüdung oder Gereiztheit, Zeichen von Erfolg oder Mißerfolg, vielleicht auch Stoff zu Auseinandersetzungen mitbringen. Das Leistungs- und Gewinndenken der wirtschaftlichen Umwelt mit ihren Zwängen und ihrem Konkurrenzkampf kann Schatten auf das Familienleben werfen.

Dazu aber strahlt aus der "weiten Welt" eine verwirrende Fülle von Tönen und Bildern ins Dasein der Familie herein. Der Rundfunk, die Illustrierte, vor allem aber das Fernsehen drängen dem Kind Eindrücke auf, die es noch kaum verstehen und einordnen kann. Erregung, Mitgefühl, Angst, Entsetzen greifen in sein Gefühlsleben ein, oft bis in seine Träume hinein.

Ausgangspunkt aber und Zentrum der Rückbeziehung aller neuen Eindrücke bleibt die Familie - zumindest wenn sie gesund ist. Die oft im Wettstreit miteinander liegenden neuen Interessen, Einflüsse und Anforderungen wecken und steigern im Kind das Verlangen nach ihrer Verarbeitung im Schoß der Familie. Hier ergibt sich für die Eltern die einzigartige Gelegenheit, ihre erzieherischen Zielvorstellungen und sittlichen Wertmaßstäbe angesichts der von den Kindern vorgebrachten Fragen und Zweifel zu entfalten und wirksam werden zu lassen.

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Das durch das "Draußen jenseits der Familie" unsicher gewordene und verwirrte Kind braucht jetzt viel Verständnis, echte Teilnahme und liebendes Einfühlungsvermögen. Wenn die Familie ihm diese Gefühle entgegenbringt und auf seine Probleme eingeht, kann es sich entspannen, zu ruhigem und fruchtbarem Nachdenken gelangen und so die Anfänge von kritischem Bewußtsein und wertendem Urteilsvermögen entwickeln.

 

1.2.1 Der Mensch und seine Wohnung

Ob die Familie diese ausgleichende Aufgabe auch bewältigen kann, hängt unter anderem von der Beschaffen­heit der Familienwohnung ab. Denn auch in der Wohnkultur verwirklicht sich ein Stück Menschsein, weil der Mensch durch seine leiblichen Bedürfnisse auf einen angemessenen Wohnraum angewiesen ist. Die Wohnung umgibt ihn wie ein erweiterter Leib. Daher fühlt er sich sinnlich-körperlich und seelisch wohl, wenn sie geräumig, hell, ruhig und dem persönlichen Geschmack entsprechend eingerichtet ist. Gut ist es, wenn sie den Blick in einen Garten oder auf eine Landschaft freigibt - und sei es nur ein bißchen Grün -, obwohl dies in den Städten nur selten möglich ist. Eine Familie mit Kindern braucht eine Wohnung, die so geräumig und gut aufgeteilt ist, daß sie sowohl den Eltern wie den Kindern ein gewisses Eigenleben, einen von Zeit zu Zeit unternommenen Rückzug in einen Eigenraum gestattet, und daß sie die Kinder nicht in ihrer spielerischen Entfaltung behindert.

Das Kind lernt "seine" Wohnung kennen, sobald es sich selbständig zu bewegen vermag: erst kriechend, dann stehend und gehend. Es betastet und untersucht alle Einzelheiten, "erobert" sie, bis sie ihm vertraut sind. Manche werden ihm "lieb" - ein Teppich, ein Stuhl, eine Sitzecke -, andere sind ihm unbehaglich oder sogar unheimlich - ein dunkler Winkel, eine Treppe, eine finstere Kammer. Bilder an den Wänden, Blumen auf dem Tisch, Ausblicke aus den Fenstern, sich wiederholende Geräusche und Gerüche werden bewußt wahrgenommen, man gewöhnt sich an sie und fühlt sich mit ihnen behaglich. 

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Eine besondere Rolle spielt das Kinderzimmer mit geeigneten Möbeln und ungefährdetem Spielraum, vor allem wenn es als "Freiraum" für kindliche Einfälle anerkannt wird. Im ganzen schenkt eine geeignete und gut ausgestattete Wohnung, zusätzlich zu den menschlichen Beziehungen in der Familie, dem Kind ein Gefühl der Geborgenheit.

Später lernt das Kind auch vergleichen. Es sieht Wohnungen und Häuser, die ihm schön oder häßlich, angenehm oder unfreundlich, düster oder hell, weiträumig oder eng vorkommen. Sein Schönheitssinn, sein ästhetisches Urteilsvermögen regt und entwickelt sich. Dabei bemerkt das Kind auch bald, daß ärmere Familien in engen Wohnungen, oft in häßlichen Mietskasernen wohnen, während wohlhabende Familien eigene Häuser haben, oft große Villen, die von Gärten umgeben und mit allen erdenklichen Bequemlichkeiten ausgestattet sind. Es nimmt, zunächst nur in schattenhaften Vorstellungen, das Vorhandensein sozialer Unterschiede und ungleicher Besitzverhältnisse wahr, fragt nach dem Warum und kann dabei Ansätze zu sozialkritischem Denken gewinnen.

Leider ist es ja derzeit mit dem Wohnraum für Kinder in unserer Bundesrepublik nicht gut bestellt. Zwar wird vom Grundgesetz in Artikel 6 der Familie ausdrücklich ein staatlicher Schutz garantiert, aber in der Praxis hat sich das nur schwach durchgesetzt. In den Grundsätzen des sozialen Wohnungsbaues z.B. ist für ein Kinderzimmer nur eine Grundfläche von acht Quadratmetern vorgesehen. Wohl werden in vielen Städten für Kinderreiche eigene Sozialwohnungen gebaut, aber trotzdem gibt es im ganzen für Familien mit Kindern viel zu wenig geeigneten und preiswerten Wohnraum. Zum Ausgleich dafür kann Wohngeld aus öffentlichen Mitteln bezogen werden. Aber insgesamt kann diese Art staatlicher Hilfe nicht verhindern, daß die äußeren und wirtschaftlichen Lebensumstände für Familien mit mehreren Kindern schwierig sind. Und muß es nicht deprimierend auf Wohnungssuchende Eltern wirken, wenn sie von einem Hausverwalter hören müssen, daß in dem Hause "aus Rücksicht auf ältere Mitbürger" Kinder unerwünscht sind?

Tatsache ist leider auch, daß es in unserem Lande viel zu wenig Spielplätze für Kinder gibt, auch im Vergleich mit anderen europäischen Staaten. Viele Kinder sind deshalb, wenn sie im Freien spielen wollen, auf die Straßen angewiesen; die Folge davon ist die bedauerliche Häufigkeit von Verkehrsunfällen mit spielenden Kindern. 

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Alles in allem ist es durchaus richtig, wenn die Familienministerin der Bundesregierung 1978 erklärt hat, die Bundesrepublik sei "weit davon entfernt, ein kinderfreundliches Land zu sein". Sicher ist dieser Tatbestand auch eine Teilursache des seit Jahren anhaltenden Rückgangs der Geburtenzahl im Bundesgebiet.

Die Bedeutung der Wohnung für den Menschen erschöpft sich aber nicht in den Einflüssen auf seine Entwicklung in der Kindheit. Auch für den Erwachsenen ist und bleibt seine Wohnung eine wichtige Grundbedingung seines Lebens und Wohlergehens. Wer obdachlos oder "unbehaust" ist, gilt mit Recht als im Grunde seines Daseins gefährdet und verunsichert. Die Wohnung ist zunächst einmal die Rückzugsmöglichkeit und Zufluchtstätte nach den Anstrengungen der Berufsarbeit und den Erregungen des öffentlichen Lebens; dort erholt man sich wieder und sammelt neue Kräfte. 

Darüber hinaus aber bietet sie dem Menschen, wie nichts anderes sonst, die Gelegenheit zu zwangloser und schöpferischer Ausgestaltung und Veränderung seiner unmittelbaren Umgebung. Er kann Wände, Boden und Decke in Form und Farbe nach seinem Geschmack herrichten, kann Möbel und Einrichtungsgegen­stände auswählen und vielleicht selbst anfertigen; er kann künstlerischen Schmuck anbringen, Möglichkeiten zu musikalischem Genuß schaffen und noch anderes mehr. Hier kann er in einem kleinen Reich zu Befriedigung und Erfolgserlebnissen gelangen, die ihm vielleicht anderswo versagt bleiben.

Vor allem aber ist die Wohnung der Schauplatz des täglichen Zusammenlebens mit den Familienangehörigen - soweit der Inhaber nicht Alleinstehender ist. Daher müssen Größe und Einteilung der Räume für alle Bedürfnisse des Alltags ihrer Bewohner ausreichend Platz und Behaglichkeit bieten: zum Kochen und Essen, für Hygiene und Schlaf, für das Zusammensein im Gespräch ebenso wie für das Alleinsein zum Lesen und Schreiben oder auch für die gemeinsame oder getrennte Information und Unterhaltung durch die Massenmedien. Dabei sollte es selbstverständlich sein, daß die Interessen aller Familienmitglieder partnerschaftlich berücksichtigt werden. Durch eine vernünftige Verteilung von Räumen und Gelegenheiten kann möglichen Auseinandersetzungen um einzelne besondere Ansprüche vorgebeugt werden. Dagegen sind enge und ungeschickt eingeteilte Wohnungen eine Quelle häuslichen Unfriedens und seelischer Belastung ihrer Bewohner.

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Zu einer befriedigenden Benützung der Wohnung gehört auch eine freundliche Beziehung zu den unmittelbaren Nachbarn. Ihrer Pflege sollte man einige Mühe widmen; denn Unfrieden mit Nachbarn schafft oft empfindlichen und lange anhaltenden Ärger. Zu bedenken ist dabei auch, daß man vielleicht in Notfällen auf die Aufmerksamkeit und Hilfe von Nachbarn angewiesen sein kann.

Eine gute Wohnung kann für den Bewohner viel bedeuten: ein wirkliches "Heim" und "Zuhause", eine Zuflucht in den Widerwärtigkeiten des Lebens, einen Ort der Selbstverwirklichung und des Glücks. In ihr kann verantwortliches Gemeinschaftsleben eingeübt, lebensbejahende Menschlichkeit erprobt werden.

 

1.2.2 Die Rolle der Schule im Entwicklungsgang des Menschen

Eine gewaltige Neuerung im Leben des Kindes bedeutet der erste Gang zur Schule. Ist diese doch im Vergleich zum Kindergarten eine Einrichtung, die sich durch größere Selbständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber den Eltern auszeichnet. So stellt der Eintritt in die Schule eine endgültige Überschreitung der Grenzen der Familie dar, die bisher Geborgenheit gewährte. Sowohl das Verhalten in der Gemeinschaft wie das Entdecken und Anwenden der eigenen Fähigkeiten werden in der Schule in besonderer Weise geübt; sie bildet eine neue Stufe der Sozialisation und Individuation (A). Wer so spricht, scheint von der Krise der Schule noch nichts gehört zu haben, von der überall gesprochen wird und die bis zu dem Vorwurf reicht, die "Verschulung" des Menschen bedeute seine völlige Beherrschung und Entmündigung.

Man kann sicher zahlreiche, teilweise auch berechtigte Einwände gegen den erzieherischen Wert der Schule erheben. Trotzdem bleibt sie im Rahmen der bestehenden modernen Gesellschaftsordnung der Ort, der als einzigartige Gelegenheit zur Reifung und Selbstverwirklichung des Menschen genutzt werden sollte. Grundsätzlich hat auch jedes Unterrichtsunternehmen diese Chance, ob es sich nun um Grundschulen, Gesamtschulen, Realschulen, Gymnasien, Berufsschulen oder um öffentliche Schulen überhaupt handelt oder um private Bildungseinrichtungen.

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Wie soll diese Chance genutzt werden? Grundlegend dadurch, daß bei Lehrern wie Schülern der gute Wille besteht bzw. geweckt wird. Dem Lehrwillen der Lehrer sollte der Lernwille der Schüler voll entsprechen. Schwerpunktmäßig wird es besonders die Aufgabe des Lehrers sein, diesen Lernwillen bei den Schülern hervorzurufen und am Leben zu erhalten. Das kann er auch schaffen, wenn er die entsprechenden Eigenschaften besitzt und die richtigen Ziele ansteuert.

Die wichtigste Eigenschaft ist nicht, daß der Lehrer alles weiß. Das ist ohnehin nicht möglich. Auch nicht, daß er so tut, als ob er alles wüßte, denn das wäre Schwindel und käme auch bald ans Tageslicht. Die Schule ist längst nicht mehr die mächtigste und neueste Informationsquelle, und die Schüler werden so manches aus der Presse, aus Rundfunk und Fernsehen erfahren, was der Lehrer nicht weiß. Die wichtigste Eigenschaft des Lehrers besteht auch nicht darin, daß er eine schon fertige, vollendete Persönlichkeit ist. Denn auch das ist nicht möglich, und selbst eine relativ vollkommene Persönlichkeit erfordert die sittliche Arbeit eines ganzen Lebens. Es kann demnach gar nicht darum gehen, daß er die Autorität eines Supermenschen darstellt.

Die gesuchte Grundeigenschaft des Lehrers kann nur der unbedingte gute Wille zur unvoreingenommenen, vorurteilsfreien und uneingeschränkten Hinwendung zum Schüler sein. Das sagt sich so leicht, aber diese Hinwendung verlangt ein Höchstmaß an Anstrengung und Bereitschaft, verlangt die verschiedenartigsten Schranken der Tradition, der eigenen Ausbildung und sozialen Klasse, des Charakters usw. zu überspringen. Von dem Maß, in dem dies gelingt, hängt es jedoch ab, ob der Schüler die Autorität des Lehrers anerkennt.

Uneingeschränkte Hinwendung zum Schüler - das bedeutet Selbstkontrolle des Lehrers, Selbstüberprüfung seiner Gedanken und seines Verhaltens, Abstellen erkannter Fehler in der Behandlung seiner Schüler. Er muß die eigenen Wertmaßstäbe den echten Bedürfnissen der Schüler anpassen, muß sich davor hüten, Wertideen, die schon in ihm zu Schablonen erstarrt sind, den ihm Anvertrauten überzustülpen. 

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Wir teilen ständig die Menschen in Klassen ein, und so teilen auch viele Lehrer ihre Schüler ein nach Volksabstammung und Bildungsschicht, nach dem sozialen und wirtschaftlichen Stand ihrer Familien, nach Aussehen und Kleidung. Der Schüler aber spürt, daß der Lehrer ihn in eine Schablone preßt, und setzt sich entweder durch Aufsässigkeit und Unterrichtsstörung zur Wehr oder aber er fühlt sich ohnmächtig und verfällt in Unterwürfigkeit.

Aber selbst nach Grundsätzen, die einigermaßen der Wirklichkeit in der Klasse entsprechen, darf der Lehrer seine Schüler nicht in erster Linie einordnen. Beurteilt er sie ständig nach solchen Maßstäben des Begabt- oder Unbegabtseins, der Leistungsstärke oder -schwäche, der Gefühlsreife oder -unreife, dann entsteht aufgrund einer solchen Abstempelung bald eine innere Sperre sowohl im Lehrer wie im negativ gesehenen Schüler. Diese Sperre setzt die Lehr- und Lernqualität herab, weil der Lehrer von vornherein weniger vom Schüler erwartet und dieser als nicht oder nicht genügend ernstgenommener größere oder geringere Lernverweigerung übt. So wird klar, daß die Ganzheit Mensch, das allen gemeinsame Menschsein, allererster Ausgangspunkt im Verhalten des Lehrers zum Schüler sein sollte.

Lehrer und Schüler müssen gemeinsam zu einem neuen Umgang miteinander finden. Jeder muß wissen, daß vor ihm ein Mensch mit Stärken und Schwächen steht, der in dieser seiner angenehm-unangenehmen Ganzheit anerkannt sein will. Stärken und Schwächen bei den beiden bewirken, wenn man sie sich bewußt macht, eine größere Offenheit und Anteilnahme füreinander; ein Wissen um die gegenseitige, nicht bloß einseitige Abhängigkeit von Lehrer und Schüler; sodann die Überzeugung, daß die beiden nur dann miteinander auskommen, wenn jeder auf die Bedürfnisse und Interessen des anderen Rücksicht nimmt. Eine solche Haltung ist weiterhin durch Beweglichkeit und Toleranz gekennzeichnet. Für rechthaberische Bewertung und Verurteilung des anderen Teils sollte kein Platz sein.

In der durch eine solche Haltung bewirkten Atmosphäre kann es zu einem neuen Sehen, einem neuen Hören, einem neuen Sprechen und einem neuen Handeln kommen, die alle den nachher noch anzuführenden Lernzielen in viel stärkerer Weise als bisher dienen. Der Lehrer sieht und sieht ein: Jedes Kind, jeder Jugendliche ist etwas ganz Eigen- und Einzigartiges, wiewohl er dieses Eigene und Einzige vom darüber aufgehäuften Schutt der gleichmacherischen Verkehrs-, Umgangs-, Verhaltens- und Geschmacksformen erst befreien muß.

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Diese festgelegten und letztlich langweiligeinförmigen Leitbilder werden den jungen Menschen durch die Medien, insbesondere durch das Fernsehen, ja ständig frei Haus geliefert. Aber auch der Schüler sieht und sieht ein: Es gibt nicht "den" Lehrer, schon gar nicht den ganz allgemein bösen Lehrer; jeder Lehrer ist anders als sein Kollege und will in der Rolle des älteren, erfahreneren Partners bei der Erwerbung von Wissen und Können helfen.

Besonders das Zuhören-Können des Lehrers eröffnet diesem den Zugang zur wesenseigenen Besonderheit des Schülers und ermöglicht dem letzteren, seine Eigentümlichkeiten besser zu erkennen, indem er sie formuliert. Einer, der gespannt und trotzdem respektvoll zuhört, löst ungeahnte Wirkungen im Sprechenden aus. Dieser wird seiner selbst immer sicherer; wird im Fortgang des Sprechens über seine Situation, seine Gefühle entkrampfter, entspannter, gelöster; fühlt sich veranlaßt, sich seinen niederdrückenden Zuständen zu stellen, gegen sie anzugehen. Die wohl geeignetste Art, einem Menschen zu helfen, mit seinen Problemen fertig zu werden, ist, ihn spüren zu lassen, daß man ganz für ihn da ist.

Natürlich will auch dieses Zuhören gelernt sein. Kein Mensch öffnet sich ohne weiteres dem anderen, schon gar nicht der Schüler dem Lehrer. In der Pädagogik spricht man von sogenannten Türöffnern, also meist kurzen, vertrauenerweckenden und ermutigenden Sätzen des zum Hören Bereiten, die dem Unschlüssigen dazu verhelfen, die ersten Worte zu finden. Das passive Zuhören, das nur schweigende Hinhören wird oft nicht ausreichen. Hinzu kommen muß das aktive Zuhören, das Verhalten und Sprachsignale des reserviert Sprechenden entschlüsselt. Der Niedergeschlagene, in seiner eigenen Haut Gefangene, Angst vor den Konsequenzen einer Entblößung seines Innern Empfindende sendet ja meist nur verschlüsselte Botschaften. (Beispiel: Ein Junge sagt: "Eleonore ist eine eitle Gans" als Verschlüsselung der Enttäuschung, keinen Kontakt mit ihr zu bekommen.) Nur wer dem anderen wirklich helfen will, wird solche verschlüsselten Botschaften entschlüsseln können.

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In der Atmosphäre echten Aufeinander-Zugehens von Lehrer und Schüler wird es auch zu einem neuen Sprechen kommen. Autoritäre Ausdrücke und Redewendungen wie: "Hier bestimme ich", "Das ist ein Befehl", "Ich verlange das von euch", "Es muß Strafen setzen", "Kontrolle muß sein" usw. werden ersetzt durch Begriffe der Mit- und Zusammenarbeit, der Konfliktbewältigung, des gegenseitigen Einvernehmens, der Besprechung, der gemeinsamen Problemlösung und ähnliches.

Damit ist der Boden für ein neues Handeln von Lehrern und Schülern bereitet. Geschriebene und ungeschriebene Verhaltensregeln und Vorschriften, die sich jede Schule gibt, sollten auf keinen Fall ohne ausdrückliche Beteiligung der Schüler zustande kommen. Wenn sich Schüler frei zu Regeln und Vorschriften äußern, sie gegebenenfalls im Rahmen demokratischer Meinungs- und Mehrheitsbildung auch verändern können, wenn sie so ihren Gefühlen und ihrer Entscheidungsfähigkeit Ausdruck zu geben vermögen, fördert dies die Entwicklung von Selbstbewußtsein und Ich-Stärke und bewirkt weitere positive Veränderungen in ihnen selbst. Entscheidungen, an denen sie mitgewirkt haben, befreien sie auch von dem seelischen Zwang, Verteidigungsmaßnahmen und Überlistungsmanöver zu ersinnen und auszuführen, um sich gegen die "Willkürherrschaft" der Lehrer zur Wehr zu setzen. Wer es einmal staunend miterlebt hat, wird gestehen, daß selbst Kinder unterster Schulstufen eine bemerkenswerte Fähigkeit besitzen, sinnvoll und fast ohne Leitung des Lehrers miteinander zu diskutieren. Daher muß jeder Lehrer den Mut haben, gerade bei besonderen, die Schüler aufregenden, ihre Gefühle in Wallung bringenden Ereignissen das Unterrichtsprogramm zunächst aufzuschieben und eine Klassendiskussion freizugeben. Diese sollte darüber hinaus zu einem regulären Bestandteil des Unterrichts werden.

Diskussion mit anteiliger Entscheidungsbefugnis sollte den Schülern auch zugestanden werden, wenn es um die Gestaltung ihrer nächsten (Klassenzimmer) und näheren Umwelt (Schulgebäude, Korridore, Schulhof) geht. Und auch in die Eltern-Lehrer-Treffen müßten sie wenigstens von Zeit zu Zeit einbezogen werden, so daß ein partnerschaftliches Dreiecksverhältnis Eltern-Lehrer-Schüler entstehen kann.

Auf diese Weise schafft man die günstigste Basis für die Erreichung der Lernziele der Schule. Wir sagten schon: Das wichtigste Ziel kann nicht sein, den Schülern eine Menge Wissen zu vermitteln, weil sie dieses auch aus anderen Quellen als denen der Schule beziehen können. 

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Wichtiger ist es schon, daß sie wegweisend für ihr ganzes Leben lernen, wie man sich .Wissen aneignet, es sortiert, filtert, Wesentliches vom Unwesentlichen, Nützliches vom Unnützen unterscheidet und wie man es so verwendet, daß es nicht nur zur Erweiterung der eigenen Erkenntnissphäre, sondern zum Aufbau der Persönlichkeit förderlich ist. Manche Schüler sind wandelnde Lexika, wissen auf jede Quizfrage eine Antwort, aber sie haben diesen unaufhörlich ihr Gedächtnis bereichernden Informationsstrom trotzdem nicht verdaut. Für eine wertausgerichtete Lebensgestaltung wirft er kaum etwas ab.

Was also soll man in der Schule und auf jeder ihrer Stufen neben den zweifellos notwendigen Fertigkeiten und Fachkenntnissen in Lesen, Schreiben und Rechnen, in Deutsch, Latein, Englisch, Französisch, Mathematik, Physik, Chemie, Geschichte, Geographie usw. vor allem anderen lernen? Die erste Antwort muß wohl lauten: Man muß das Zusammenleben lernen und gestalten. Denn in ihm verwirklichen sich alle anderen Werte der Menschlichkeit. Zusammenleben - das bedeutet, daß viele Personen einer Klasse, einer Schule mit sehr verschiedenen Wünschen, Bedürfnissen und Interessen sich zu einer Gemeinschaft zusammenfinden. Leistungsprinzip und Konkurrenzkampf werden trotz aller teilweise berechtigten Kritik daran in irgendeiner Form immer zum Schulwesen gehören, aber sie haben eine auflösende, zersetzende Tendenz, wenn sie nicht dem Wert der Gemeinschaft, des allen gemeinsamen Menschseins untergeordnet bleiben. Gute Noten sind nützlich, aber wichtiger als der Ehrgeiz, sie zu bekommen, sind Hilfsbereitschaft, Solidarität, echte Kameradschaft, aufrichtige Freundschaft. Gute Noten sind auch nicht der Maßstab für alles. Es gibt viele Begabungen, die durch sie nicht erfaßt werden können, und die eben angegebenen Gemeinschaftswerte kann man auch nicht messen, obwohl sie wichtiger sind als alle durch Noten charakterisierbaren Leistungen.

Kreativität, das Erdenken, Erfinden, Erschaffen von irgendetwas Neuem, bisher so oder im Umkreis der Klasse nicht Dagewesenem, ist beispielsweise ein hoher Wert. Aber Kreativität, die nur auf Verbesserung der Lehr- und Lernmethoden, auf Förderung der Aneignung von Fachwissen abzielt, ist weit weniger wert als jene, die Brücken der Anerkennung, des Vertrauens, der offenen und ehrlichen Verständigung mit dem Lehrer und den Mitschülern sucht, ersinnt und baut.

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Höchste Aufgabe einer lebendigen, kreativen Klasse wäre es also, eine entsprechende Wertrangordnung aufzustellen, in der die nicht meßbaren Werte des Füreinander-Daseins über den durch Noten meßbaren stünden.

Das Füreinander-Dasein ist gemeinschaftsbildend. Aber es kann und darf den Wert des Fürsich-Seins nicht ausschließen. Jeder Schüler hat berechtigte Eigenbedürfnisse und -interessen. Die Kraft der Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Selbstkontrolle, Selbstbewertung und Eigeninitiative der Schüler muß also vornehmlich darauf gerichtet sein, Zusammenleben zu gestalten, d.h. die Sphäre der Eigeninteressen so abzugrenzen, daß die eigene Freiheit sich entfalten und der Selbstwert wie die Bedürfnisse der anderen nicht geschmälert oder verletzt werden. Eine solche Abgrenzung schafft jenen leichten Abstand, aus dem man das Fremde wie das Eigene besser in den Blick bekommt. Man gelangt so zu einer richtigeren Einschätzung der eigenen Möglichkeiten wie derjenigen der Lehrer und Mitschüler. Man kann Selbst- und Fremdvertrauen besser abwägen. Man kann ermessen oder gar vorausplanen, was im Verhalten der anderen und im eigenen veränderbar, verbesserbar ist. Man erkennt, daß man in jedem Augenblick vor der Notwendigkeit steht, eine neu ausgewogene Verbindung zwischen der Abhängigkeit von den anderen und der eigenen Selbständigkeit herzustellen.

Das setzt aber auch voraus, daß man eine wirklichkeitsnahe Antwort auf die Frage findet: Welches sind die Wertvorstellungen, die den Lehrer, die Mitschüler, die mich selbst bewegen und leiten? Toleranz (Duldsamkeit) ist in diesem Zusammenhang jene gar nicht hoch genug bewertbare Bereitschaft, einen erträglichen Ausgleich zwischen voneinander abweichenden, jedoch nicht menschenfeindlichen Wertvorstellungen anzustreben. Intoleranz (Unduldsamkeit) ist nur gegenüber jeglicher Form von Unmenschlichkeit am Platz.

Faßt man Schule im Sinne der vorausgegangenen Ausführungen auf, so ist sie ein ganzheitlicher, nie abgeschlossener Lernvorgang, der mit dem formalen Schulabschluß nicht beendet sein kann, sondern mit der gesamten Länge eines menschlichen Einzellebens zusammenfällt. 

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Dieser Lernvorgang vollzieht sich in einer unaufhörlichen Aufhebung von Begrenztheiten des eigenen Wissens, Wollens, Fühlens, Könnens und Seins. Er stellt eine ständige Grenzüberschreitung und Erweiterung des eigenen Gesichtskreises dar. Er verbindet uns immer stärker mit den Tiefen unseres Bewußtseins, mit einem immer größeren Kreis von Mitmenschen und Lebewesen überhaupt und mit den unermeßlichen Weiten des Universums.

 

1.2.3 Die Wohngemeinde

Wie die Schule, so ist auch die Gemeinde, zu der man durch seinen Wohnsitz gehört, eine gesellschaftliche Einrichtung, in der man Gemeinschaft erleben und soziales Verhalten üben kann. Man kann sie als "Lokalgruppe", als im Vergleich zur Gesamtgesellschaft eines Staates verhältnismäßig kleine, örtlich begrenzte soziale Einheit bezeichnen. In ihr wirken Menschen in ihrer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Tätigkeit nah und eng zusammen.

Jeder findet innerhalb der Gemeinde - mehr oder weniger deutlich - einen Platz, dem eine bestimmte Bedeutung zukommt. Dieser Platz richtet sich in erster Linie danach, welchen Beruf man ausübt, welche wirtschaftliche Leistungen man erbringt, über welche finanziellen Mittel man verfügt, welche Intelligenz man besitzt und wie aktiv man am Gemeinschaftsleben teilnimmt. Von Bedeutung ist aber auch, welcher sozialen Schicht man entstammt, welcher weltanschaulichen oder religiösen Gruppe man angehört, in welchen Organisationen man Mitglied ist und wie man sich politisch betätigt.

In der Gemeinde zeigt sich viel deutlicher und stärker als in Familie und Schule die Vielgestaltigkeit der Gesamtgesellschaft, deren Vorgänge und Probleme, Schichtungen und Ordnungen sich hier in kleinerem Rahmen widerspiegeln. Auch ihre Widersprüche und Auseinandersetzungen spielen in die Gemeinde herein; für manche ihrer Einwohner ergeben sich daraus Ungerechtigkeiten in ihrer Bewertung und Standortzuweisung.

Die Gemeinde kommt in vielerlei Gestalten vor. Ihr Gesicht und ihre Verhältnisse unterscheiden sich vor allem, je nachdem es sich um ein Dorf, eine Klein- oder Mittelstadt oder eine Großstadt handelt. 

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Das Dorf zeichnet sich aus durch eine ländliche Siedlungsform mit starker Naturverbundenheit, durch häufige Zusammenarbeit der Familien im Beruf, nahe Verwandtschaftsbeziehungen und Festhalten an alten Bräuchen - wenn es dabei auch durch Stadtnähe oder Fremdenverkehr Unterschiede gibt. Die Klein- oder Mittelstadt ist wirtschaftlich und beruflich vielfach gegliedert, hat Gewerbe, Handel, Behörden und Bildungseinrichtungen und zeigt in ihrem meist geschichtlich gewachsenen Stadtbild ein "urbanes" Leben mit bürgerlichen Gewohnheiten und vielerlei Kulturveranstaltungen. Die Großstadt dagegen ist durch ein unruhiges, auf Leistung und Konkurrenz ausgerichtetes Erwerbsleben gekennzeichnet, durch Industrie und Arbeiterschaft mit großen sozialen Unterschieden und Spannungen, durch hektischen Verkehr zwischen den oft unschönen und nicht zueinander passenden Gebäuden, insbesondere in Massen-Wohnvierteln, denen eine gewisse "Unwirtlichkeit" anhaftet; dort sind die Verbindungen zwischen den Menschen lockerer und zufälliger, man lebt mehr anonym, das heißt unbekannt und unbeachtet. Doch bieten manche Großstädte auch eindrucksvolle Bauten und Plätze, schöne Grünanlagen, wohnliche Randviertel und Vororte sowie ein hochstehendes Kulturleben mit Theatern, Konzerten, Hochschulen, Kongressen und dergleichen.

Trotz aller dieser Verschiedenheiten ist jede Gemeinde ein gesellschaftlicher "Mikrokosmos", eine kleine Welt für sich mit einem gewissen Eigenleben. Das zeigt sich schon darin, daß jeder Einwohner anzugeben vermag, zu welcher Gemeinde er gehört und wo ihre Grenzen verlaufen. Die Gemeinde ist in der Regel auch eine politische Verwaltungseinheit, die ihre Angelegenheiten in gewissem Umfang durch eine von den Einwohnern gewählte Körperschaft selbst bestimmt. Auch dadurch ist der Gemeindebürger oft unmittelbarer an dem Geschehen in der Gemeinde interessiert als an den Ereignissen in den großen gesellschaftlichen Verbänden.

Worin äußert sich nun das Eigenleben der Gemeinschaft einer Wohngemeinde? Man kann von einem verhältnismäßig beständigen Eigendasein der Einwohnerschaft sprechen, wenn man auch wegen der heutigen Beweglichkeit der Bevölkerung - durch Umzug, Arbeitsplatzwechsel, Zweitwohnungen und dergleichen - daran einige Abstriche machen muß. 

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Die meisten Gemeindemitglieder haben ein deutliches Empfinden für die Andersartigkeit ihrer Gemeinde gegenüber anderen Gemeinden, ein Empfinden dafür, daß in ihrer Gemeinde die Lebensumstände und gesellschaftlichen Beziehungen anders geordnet sind als anderswo. Soziologische Untersuchungen haben festgestellt, daß Gemeinden ihre eigenen Werte, Grundsätze, Symbole, Bräuche und sozialen Bindungen entwickeln, ihre besondere Art von Kultur pflegen. Gemeinden sind Gebilde mit einer starken sozialen Prägekraft, die Verhalten und Charakter ihrer Angehörigen sehr viel unmittelbarer beeinflussen und bestimmen als größere Gesellschaftsverbände, fast so direkt wie die Familien. Gerade der Durchschnittsbürger wird nahezu lückenlos durch die maßgebende Atmosphäre seiner Gemeinde gestaltet und geprägt; er begreift oft gesamtgesellschaftliche Vorgänge nur nach Art gemeindlicher Ereignisse und bringt für das Geschehen in Verbänden höherer Ordnung - Staat, Europäische Gemeinschaft u.a. - nur geringes Interesse auf.

Zu der unmittelbaren sozialen Prägekraft der Gemeinde tragen auch die engen - positiven oder negativen - nachbarschaftlichen Beziehungen bei, in die sich jeder Bewohner hineingestellt sieht. Aus der Nachbarschaft der Straße oder des Viertels heraus entwickeln sich nicht nur die Spielgruppen der Kinder und die Freizeitgruppen der Jugendlichen - in negativen Fällen die Banden, die "Gangs" - sondern auch Vereine oder formlose Gruppen (Stammtische u.a.) der Erwachsenen. Dabei spiegeln diese Gruppen und Vereine recht genau die sozialen Unterschiede in der Gemeinde wider. Unterschiedlich sind z.B. die Zusammensetzung und manchmal auch die Spiele von Kindergruppen reicherer und ärmerer Viertel derselben Gemeinde. Kein Zweifel, daß die Eigenart jeder Gemeinde wesentlich durch die Schichtung der sozialen Klassen - Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Handwerker, Angestellte, Beamte, Freischaffende - in ihr bestimmt ist.

Von der sozialen Bedeutung der Gemeinde zeugt auch die Geschichte. Die Gemeinde kann als das erste gesamtgesellschaftliche Gebilde in der uns bekannten Menschheitsgeschichte gelten. Wo wir ein über die Familie hinausgreifendes geordnetes Sozialleben der Vergangenheit einigermaßen sicher feststellen können, begegnet es uns in der Form von Gemeinden. Sie waren eine lange Zeit hindurch die einzigen gesamtgesellschaftlichen Einrichtungen, nachweisbar etwa seit dem zehnten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, als

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die Menschen anfingen, seßhaft zu werden, und vom nomadisierenden Sammler- und Jägertum zum Ackerbau und schließlich zur Viehzucht übergingen. Und es zeugt von der Stabilität und Wichtigkeit der Gemeinde als einem allem Anschein nach wesentlichen Lebenselement der menschlichen Gesellschaft, daß sie selbst in den fortgeschrittensten modernen Industriegesellschaften ihre Bedeutung nicht eingebüßt hat. Überall bestimmt sie weiterhin einen Großteil des Lebens der Menschen.

Wer sich einmal der Bedeutung der Gemeinde bewußt geworden ist, von dem darf man erwarten, daß er sich gerne und entschieden in ihren Rahmen einfügt und an ihrem Eigenleben mitwirkt. Doch sollte er sich auch für die übergemeindlichen Vorgänge in der Gesellschaft offenhalten und sich je nach Wissen und Können in diese einschalten.

 

1.2.4 Die Heimat - ihre Bedeutung für uns

Für viele Menschen in unserer Gesellschaft ist die Gemeinde, in der sie wohnen, nicht mehr ihr Geburtsort. Die Bedingungen der modernen Wirtschaft veranlassen zahlreiche, vor allem jüngere Familien zum Wechsel ihres Wohnortes, oft mehrmals und über weite Entfernungen, um einen besseren Arbeitsplatz oder eine Möglichkeit zu sozialem Aufstieg zu finden. Insbesondere haben die Massenvertreibungen am Ende des letzten Weltkrieges und die bis heute anhaltenden, daraus folgenden Umsiedlungen ganze Bevölkerungsgruppen mehr oder weniger zwangsweise aus ihrem ursprünglichen Wohnbereich entfernt. Sie alle haben "ihre Heimat verloren", und viele empfinden das als einen schweren Schicksalsschlag. Was bedeutet dieses Wort "Heimat", und welchen Sinngehalt verbinden wir damit?

Das schon aus der althochdeutschen Sprache überlieferte Wort "Heimat" ist eng verwandt mit "Heim"; es bedeutete ursprünglich den Ort, wo man "daheim", "zu Hause" ist, also den Geburtsort. In früheren bäuerlichen oder bürgerlichen Gesellschaften hatte es meist den besonderen Sinn: "das Anwesen, in dem man geboren und aufgewachsen war", auch mit dem Nebensinn: "der Grundbesitz der Familie, der heimische Hof, das Elternhaus".

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Gefühlsmäßig war das fast gleichbedeutend mit: Zuflucht und Geborgenheit im Kreise der Familie, aus der man stammte. Im Laufe der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung mit der Entstehung neuer, grundbesitzloser Stände hat sich dieser Sinngehalt gelockert; im Fürsorgerecht hielt sich bis in unsere Zeit die Gleichsetzung von "Heimat" mit "Geburtsort". Alle diese Gesichtspunkte haben dazu beigetragen, daß "Heimat" zu einem gefühlsbetonten Begriff wurde.

Für dieses "Heimatgefühl" sind aber wichtiger als der Geburtsort die Früherlebnisse des Kindes und Jugendlichen, wenn sie ihm das Empfinden der Geborgenheit vermittelt haben. Wenn das heranwachsende Menschenwesen Mutter, Vater und Geschwister als feste, verläßliche Bezugspersonen erlebt, dann festigt sich für es auch die Welt, die Natur ringsumher. Dann verweben sich Personen, Tiere, Pflanzen, Dinge, der Boden, auf dem man steht, die Landschaft insgesamt zu einem umfassenden Raum der Sympathie. Diese Sympathie-Einheit kann man "Heimat" nennen. So gesehen, kann Heimat später, wenn man negative Erfahrungen mit der "großen, weiten Welt" draußen gemacht hat, wie eine Oase, wie eine ruhige, bergende Insel inmitten des stürmischen Meeres empfunden werden. Das heimatliche Lebensund Wertgefühl, die Prägung und Kraft, die der Mensch in Kindheit und Jugend aus der Einbettung in die heimatliche Umgebung erhalten hat, bestimmen ihn nicht unwesentlich auch noch als Erwachsenen.

Zu einem gewissen Teil beruht das Heimatgefühl auch auf der prägenden Kraft des Wohnortes, wovon vorhin schon gesprochen wurde. Für den Städter fällt beides weitgehend zusammen; bei alten Städten kommt dazu ein Geschichtsbewußtsein, das durch historische Bauten und Einrichtungen wachgehalten wird und oft einen ausgesprochenen Bürgerstolz auf die Heimatstadt hervorruft, z.B. in ehemaligen Reichsoder Hansestädten. In ländlichen Bezirken knüpft sich dagegen der Heimatbegriff an die Landschaft, in der ungefähr der gleiche Lebensstil herrscht; man gebraucht dann Landschaftsnamen wie Isartaler, Egerländer, Schwälmer, Heidjer, Dithmarscher. Zur "Heimat" gehört vor allem auch ein überliefertes Brauchtum, das von der Ernährung mit "heimischen" Gerichten über die heimatliche Tracht bis zu bestimmten Baugewohnheiten und zu einer vielfältigen "Heimatkultur" mit Liedern, Tänzen, Hochzeitssitten und dergleichen reicht. Meist kommt dazu auch eine bestimmte Mundart, eine besondere "Muttersprache", die ihre eigene Dichtung und Literatur hervorgebracht hat.

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Einen außergewöhnlich hohen Wert gewinnt das Heimatgefühl bei Menschen, die ihre Heimat verlassen oder verloren haben. Die wehmütige Erinnerung weckt Heimwehgefühle bei Auswanderern, Flüchtlingen und Vertriebenen, wobei das Verlorene oft im Rückblick verschönt wird. Die Verbände der Heimatvertriebenen suchen ein Heimatbewußtsein durch Pflege des Brauchtums auf die kommenden Generationen zu übertragen und verbinden damit auch Rechtsbegriffe, z.B. das "Recht auf Heimat".

Zuweilen wird der Begriff "Heimat" auch für den Bereich ganzer Volksstämme wie Franken oder Schwaben gebraucht oder auf ein Bundesland ausgedehnt, das man als "Heimatland" bezeichnet; aber das bedeutet eher eine Abschwächung der Gefühlsbindung.

Bei vielen in der Fremde Lebenden gibt es jedoch neben dem Andenken an die "alte Heimat" auch den Willen, sich eine "neue Heimat" zu schaffen. Selbst nach einem einschneidenden, das eigene Leben nachhaltig verändernden Ortswechsel kann man wenigstens teilweise Formen eines neuen Heimatgefühls aufbauen, wenn man neue positive Bindungen religiöser, gesellschaftlicher oder kultureller Art eingeht.

Das Bedürfnis nach Heimat entspringt offenbar einem grundsätzlichen Drang des Menschen, sein Dasein in einem Bereich der Geborgenheit zu verankern, der ihn sinnvolle Zusammenhänge erleben läßt.

 

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