Skepsis, Zweifel, Glaube

Auf der Suche nach einer menschengerechten Religiosität
von Johano Strasser

Meine Damen und Herren! Liebe Christenmenschen!

Evangelische Christen haben einmal - es ist lange her - als Protestanten angefangen. Da liegt es nahe, wenn sie einen in die Jahre gekommenen Achtundsechziger zu einer Kanzelrede einladen, dass er auf diese Anfänge zu sprechen kommt. Was trieb damals, vor fünfhundert Jahren, die Protestanten an?

Die Zustände empörten sie, Menschen aller Schichten, Bauern, Handwerker, Geistliche und Gelehrte. Sie waren nicht mehr bereit hinzunehmen, was das Establishment als unabänderliche Normalität ausgab: eine Kirche, die sich den weltlichen Gütern und der irdischen Macht verschrieben hatte, die das Volk dumm hielt, statt es zum Lesen der Schrift und zur Nachfolge Christi anzuhalten, Päpste und Kardinäle, deren Lebenswandel allem widersprach, was die Kirche seit Jahrhunderten verkündete, Inhaber kirchlicher Pfründen, die Entsagung predigten und sich selbst schamlos bereicherten, während das Volk darbte, Ämterkauf und Ablasshandel...

Protest erhob sich, ein Führer fand sich, der ihm Stimme gab: Martin Luther, der Mönch aus Wittenberg, der kein Blatt vor den Mund nahm, der aussprach, was den Leuten die Zornesröte ins Gesicht trieb, der in einem gigantischen Kraftakt die Bibel übersetzte und ganz nebenbei auch noch die deutsche Hochsprache erfand. Das ist die Heldenzeit des Protestantismus.

Ich bin in der holländischen Provinz Friesland geboren. Den Menschen dort sagt man nach, dass sie störrisch sind, aufsässig, antiautoritär. Eine Geschichte wie die vom mutigen Aufrührer Luther, der furchtlos den Mächtigen seiner Zeit entgegentritt - Hier stehe ich, ich kann nicht anders - spricht mir gewiss aus dem Herzen. Aber wie so oft, ist auch diese Geschichte zu schön, um wahr zu sein.

Als die geschundenen und ausgebeuteten Bauern glaubten, sie hätten in Luther ihren Fürsprecher gefunden, der sie in ihrem Aufstand gegen ihre Ausbeuter unterstützen würde, wurden sie bitter enttäuscht. Der Aufrührer, der Protestant erwies sich als Mann der Ordnung, der die Partei des Adels ergriff und es für rechtens und gottgefällig erklärte, dass man die aufständischen Bauern wie "tolle Hunde" - seine Worte - totschlug. Reformation ja, Revolution nein. Protestantismus hieß von nun an vor allem machtgeschützte Innerlichkeit, und im Kuhhandel mit der römischen Kirche und den weltlichen Fürsten wurde daraus cuius regio, eius religio: wer regiert, bestimmt, was die Menschen zu glauben haben.

Wenn evangelische Christen dieser unerhörten Ereignisse gedenken, so zumeist mit Stolz, mit Bewegtheit, mit dem Wunsch, sich ihrer Wurzeln zu vergewissern. Vielleicht auch teilweise mit leisem Unbehagen. Damals lag Aufruhr in der Luft und die Protestanten gaben ihm Stimme und Richtung. Aber sie bändigten ihn auch, erstickten ihn schließlich. Es war durchaus nicht alles heldenhaft, was damals geschah. Die meisten Protestanten flüchteten sich alsbald unter die Fittiche der weltlichen Fürsten, verkündeten, was schon Paulus zu wissen glaubte: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott." (Römer 13.1) Schlimmer noch: Sie, die Abweichler und Aufrührer wurden, wo sie gesiegt hatten, nicht selten zu intoleranten Eiferern, die die Erfinder der Inquisition in der Verfolgung Andersgläubiger und im Hexenwahn zuweilen noch übertrafen.

Christen, auch gerade evangelische Christen, verwalten ein widersprüchliches Erbe. Das Salz der Erde sollen sie sein und zugleich sich in Demut den Mächtigen fügen, auch wenn diese Unrecht dulden und andern antun, auch wenn sie den Menschen die Freiheit vorenthalten und die Chance, ihr Glück zu suchen? Ich, der ich keiner Kirche angehöre, beanspruche dennoch meinen Anteil am christlichen Erbe, weil die Kultur, in der ich lebe, ohne das Christentum gar nicht zu denken ist. Aber was mit diesem Erbe heute anfangen? Wozu ruft es mich auf? Ist da überhaupt noch etwas, das uns zur Reformatio treibt? Ist die christliche Botschaft noch ein Stachel im Fleisch, der uns nicht ruhen lässt, solange die Welt ist, wie sie ist?

Als meine Familie nach dem Krieg aus Holland nach Deutschland kam, konvertierte meine Mutter mitsamt ihren fünf Kindern zum Katholizismus. In Holland waren wir gereformeerd gewesen, hatten also einer eher kalvinistischen Spielart des Protestantismus angehört, ohne dass das für uns Kinder viel bedeutet hätte. Nun wurden wir Katholiken, weil im nördlichen Niedersachsen, wohin es uns verschlagen hatte, die Einheimischen protestantisch, die Flüchtlinge aber, in der Mehrzahl Schlesier, katholisch waren. Nach Meinung meiner Mutter gehörten wir zu den Flüchtlingen, obwohl wir aus der falschen Richtung, nämlich aus Westen gekommen waren. Der katholische Pfarrer versprühte in unserer Wohnung Weihwasser, die schlesische Nachbarin schenkte meiner Mutter einen Rosenkranz und einmal in der Woche kam Fräulein Nölke auf dem Motorrad angefahren und brachte uns Diasporakindern den Katechismus bei. Der Katechetin mit dem Motorrad habe ich in meinem Roman Der Klang der Fanfare ein kleines Denkmal gesetzt.

Ich bin nicht sicher, ob ich je im Sinne der Kirche gläubig war. Was Fräulein Nölke uns lehrte, was der Pfarrer am Altar sagte und tat, das war nicht meine Sache. Es war die Sache der Erwachsenen, die von uns Kindern erwarteten, dass wir mit Ernst und Aufmerksamkeit daran teilnahmen. Mein Bruder Wilhelm hatte sich überreden lassen, Messdiener zu werden. Aber seine Karriere endete abrupt, als eines Sonntags während der Messe, in dem Weihrauchkessel seines Messdienerkollegen Knallplätzchen explodierten und er, vermutlich zurecht, verdächtigt wurde, sie dort platziert zu haben. Ich besuchte sonntags die Messe in einer zur Kapelle erklärten Baracke, mit neun ging ich zur ersten Kommunion, mit dreizehn wurde ich gefirmt und am Heiligen Abend stand ich trotz lähmender Müdigkeit die Mitternachtsmesse tapfer durch. Aber wirklich ergriffen hat mich von alledem nichts. Wenn ich meine kindlichen Vergehen gebeichtet hatte, riss ich zumeist die als Buße aufgegebenen fünf Gegrüßet seist du, Maria und fünf Vaterunser noch während der anschließenden Messe herunter. Und als ich das Abitur hinter mich gebracht hatte und meine Mutter mir mit Hilfe des Pfarrers einzureden suchte, aufs Priesterseminar nach Alfeld an der Leine zu gehen - ihr vermeintlich stärkstes Argument war das Stipendium, das die Kirche mir anbot -, trat ich kurzerhand aus der Kirche aus und verdiente mir mein Studium selbst.

Weil ich so früh mit der Kirche brach, ist bei mir kein Hass auf sie zurückgeblieben. Der Ablösekampf liegt lange zurück. Das Christentum, die Religion überhaupt, ist für mich heute ein Gegenstand des besorgten und wohlwollenden Interesses, die Kirche, die evangelische wie die katholische, eine Institution, die ich mit gemischten, aber keineswegs durchweg negativen Gefühlen betrachte. Als ich im Jahr 1963 von Köln nach Mainz zog, um mein Studium der Philosophie zu beginnen, hatte ich eine Doré-Bibel im Gepäck, zwei schwere in Schweinsleder gebundene Folianten, die einen ganzen Koffer füllten. Ich hatte sie von einem Freund erworben, einem Pfarrerssohn, der gerade in seiner Vergangenheit aufräumte: für ganze zweihundert Mark. Ich weiß noch, wie ich eines Tages darin bei Matthäus 27, 46 eine Version des Kreuzestodes Christi entdeckte, die mir von Fräulein Nölke vorenthalten worden war und die mir die Bibel als Lektüre wieder interessant werden ließ.

Ich entdeckte den Bibelvers durch Zufall und war erschüttert: ein Gott, der in seiner Verlassenheit zum Himmel schreit wie ein Mensch. Mir war, als würde der Vorhang weggezogen, und mir für einen kurzen Moment die Wahrheit enthüllt. Hatten wir nicht im Religionsunterricht bei Lukas 23, 46 gelesen: Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er? Das war die hagiographische Lesart, die uns von Fräulein Nölke angeboten wurde. Dass es da auch noch eine andere Version gab, ahnten wir nicht. Erst die Entdeckung dieses Eli, Eli, lama asab-tani? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? hat mein Interesse für die Bibel geweckt. Auf einmal waren es nicht mehr nur jene uns mit Vorliebe angedienten Geschichten von übermenschlicher Güte und Leidensfähigkeit, von heroischem Lebenswandel, Wundertaten, Verklärung und Himmelfahrt. Ich las fortan die Bibel anders, suchte darin nach Zeugnissen und Spuren, die mit realen Menschen, ihrem Leben, ihren Hoffnungen, ihrer Verlassenheit, ihrem ehrlichen Bemühen und ihrer Schwäche zu tun hatten. Und als ich bei genauerer Lektüre der Evangelien viele weitere Unterschiede und innere Widersprüche entdeckte, wurde mir dieses Buch sympathisch. Weil sich das angebliche Wort Gottes als Menschenwerk herausstellte und sich damit auf einmal in meiner Reichweite befand.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, für einen demokratischen Sozialisten kein schlechtes Lebensmotto. Immer wieder kam ich mit Christen in Kontakt, die ihr politisches Engagement aus der Bibel, aus dem Neuen Testament, vorzugsweise aus der Bergpredigt begründeten: Franziskaner in Brasilien, die der Befreiungstheologie anhingen, Jesuiten in Nikaragua, die die Sandinisten unterstützten, eine Pfarrerin und ihre Gemeinde, die Menschen Kirchenasyl gewährten, die vom Staat in den sicheren Tod abgeschoben werden sollten, Protestanten in der DDR, die aus Jesajas Utopie einer in Frieden geeinten Menschheit - Schwerter zu Pflugscharen - handfeste Hoffnung schöpften, Menschen allesamt, die, ohne viel Aufhebens von ihrem Glauben zu machen, ihn als Anleitung zu praktischer Menschenliebe verstanden. Ihnen fühlte und fühle ich mich zugehörig.

War dies das eigentliche, das wahre Christentum? Ich hätte es vielleicht gern geglaubt. Aber da gab es die anderen Christen, die den Diktatoren zur Hand gingen, die den Armen und Ausgebeuteten predigten, dass jede Obrigkeit, die christlich verbrämten Diktaturen Salazars in Portugal und Francos in Spanien ebenso wie das mörderische Regime Augusto Pinochets in Chile, von Gott sei und daher Respekt verdiene, die die Waffen des Militärs segneten und von der Kanzel herab den Krieg als die große Bewährungsprobe der Christenmenschen priesen.

Auch diese anderen Christen konnten sich auf die Bibel berufen. Ihr Gott war der eifersüchtige, blutrünstige Gott des Alten Testaments, der grausam Rache nimmt und erbarmungslos bestraft, der die Feinde Israels mitsamt ihren Frauen und Kindern ausrottet, der die Seinen auffordert, Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel zu töten (nachzulesen im ersten Buch Samuel 15, 3), zu dessen höheren Ehre Ketzer und Hexen verbrannt wurden, in dessen Namen die Kreuzritter bei der Eroberung Jerusalems Zehntausende wehrloser Muslime und Juden abschlachteten.

Je mehr ich in der Bibel las, umso mehr sprangen mir die vielen Stellen ins Auge, an denen Mord und Totschlag im Namen des rechten Glaubens verübt und gerechtfertigt werden. Selbst im Neuen Testament kommt er wieder zum Vorschein, der Kriegsgott des Alten Testaments, in der Gestalt des Messias als brutalen Kriegsherrn, wie ihn die Johannes-Apokalypse zeichnet. Die Offenbarung des Johannes, zum großen Teil eine einzige krankhafte Vernichtungsphantasie, ein halluzinierter millionenfacher Mord an Andersdenkenden, der sich als Triumph der Rechtgläubigkeit meint legitimieren zu können. Mich wundert es nicht, dass die Polizei, als sie kürzlich den obersten Mafiaboss Bernardo Provenzano gefangen nahm, neben seinem Bett eine Bibel fand, in der vor allem die Johannes-Apokalypse mit zahlreichen Unterstreichungen und Anmerkungen versehen war.

Die meisten Christen, die ich kenne, neigen dazu diese Passagen der Bibel, wenn sie sie denn überhaupt kennen, nicht ernst zu nehmen oder zu historisieren. Und manche haben sie zusammen mit der mörderischen Geschichte der eigenen Kirche so erfolgreich verdrängt, dass sie, wenn sie auf religiös motivierte Gewalt zu sprechen kommen, ausschließlich den Islam im Auge haben. Aber in den USA gibt es heute viele Millionen Christen, die in der Apokalypse des Johannes das gültige Drehbuch der Weltgeschichte sehen, und ihre geistlichen Einpeitscher gehen unter dem Präsidenten George W. Bush im Weißen Haus ein und aus. Für Jerry Falwell, einem fundamentalistischen Prediger und Freund des Präsidenten ist es "offensichtlich, dass die aktuellen Ereignisse im Heiligen Land sehr wohl Auftakt und Vorbote der Schlacht von Armageddon und damit für die glorreiche Rückkehr Christi sind." Im iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadi nedschad hat er bereits den Antichristen der Apokalypse ausgemacht. In dem unvermeidlichen endgeschichtlichen Atomkrieg, den er kommen sieht, wird nach seiner und seiner Anhänger Überzeugung, wie im Kap. 9, Vers 15 der Apokalypse nachzulesen, ein Drittel der Menschheit sterben, ehe das große Erlösungswerk seinen Lauf nehmen kann.

Michel de Montaigne hat im Frankreich des 16. Jahrhunderts erlebt, wohin es führt, wenn die Verwalter eherner Gewissheiten, zu seiner Zeit dogmatische und machtbesessene Katholiken auf der einen und sektiererische, von Calvin inspirierte hugenottische Eiferer auf der anderen Seite, einander den rechten Glauben um die Ohren schlagen. Er, selbst durchaus religiös nicht unmusikalisch, hat aus dem Morden im Namen des Höchsten seine skeptischen Konsequenzen gezogen. Als ich zum ersten Mal seine Essais las, spürte ich den Wärmestrom eines Denkens, das der Erde und der Erfahrung irdischer Menschen verhaftet bleibt und sich nicht Gewissheiten anmaßt, die uns nicht zur Verfügung stehen, das vom Leben spricht und sich selbst als Teil dieses Lebens begreift. Bei den französischen Moralisten lebt dieser Geist fort, in Lessings Nathan der Weise, bei Kant, Camus und bei Ludwig Marcuse. Sich auf den Standpunkt der Vernunft stellen, heißt auch akzeptieren, dass wir vieles nicht so genau wissen und manches gar nicht. Es bedeutet vor allem den Verzicht darauf, seine Mitmenschen mit angeblich geoffenbarten Gewissheiten zu überwältigen.

Was viele sich nicht klar machen, ist, dass Skeptiker alles andere als arrogante Zyniker sind, dass dem skeptischen Denken durchaus eine Grundüberzeugung, wenn man so will, ein Glaube zugrunde liegt: Es ist der Glaube an den Wert eines jeden Menschen, die Überzeugung, dass das Leben in seiner Vielfalt unsere Achtung und unsere Sympathie verdient. Aus Achtung vor den Mitmenschen, aus Achtung vor ihren Überzeugungen und Lebensentwürfen verbietet es sich, die eigenen Überzeugungen und Lebensentwürfe für allgemeingültig, heilig, geoffenbart zu erklären und sie anderen aufzuzwingen. Skeptiker sind geborene Pluralisten, aber nicht aus Gleichgültigkeit ihren Mitmenschen gegenüber, sondern aus Achtung vor ihrer Individualität. Weil sie neugierig sind und Anteil nehmen am Leben anderer, weil sie bezüglich der Dignität und der Reichweite des eigenen Wissens Zweifel hegen, sind Skeptiker dialogische Pluralisten. Nur in einem Punkt wissen sie sich auf festem Grund, nämlich, wenn es um ihr Menschenbild geht, in dem die Menschenwürde und die sich daraus herleitenden Menschenrechte den lebendigen Kern bilden, in dem unsere Endlichkeit und damit die Begrenztheit unseres Denkens und Handelns immer mitgedacht wird. Nur wer dieses Menschenbild teilt, kann den anderen in seiner Andersheit respektieren und seinen eigenen Evidenzen gegenüber skeptische Zurückhaltung üben.

Das Problem der Religion ist, dass sie aufs Ganze geht. Das ist ihre notwendige Anmaßung, die wir nur ertragen können, wenn sie von Menschen gelebt wird, die sich ihrer eigenen Grenzen, der historischen Bedingtheit aller menschlichen Hervorbringungen - unter Einschluss der heiligen Texte! - bewusst sind, die aufrecht gehen unter dem Himmel und sich nicht einbilden, einer göttlichen Offenbarung teilhaftig zu werden. Glaubt jenen, die die Wahrheit suchen, zweifelt an denen, die sie finden, hat André Gide einmal geschrieben. Dass die Religion sich mit dem ganzen Menschen, mit dem Ganzen der Existenz, ihrem Ursprung, ihrem Sinn, ihrem Ziel befasst, kann man ihr nicht vorwerfen. Aber wer durch Aufklärung und Moderne hindurchgegangen ist, dem kann, wenn er sich nicht selbst betrügt, nicht verborgen bleiben, dass es ein wortwörtlich sicheres Wissen über dieses Ganze, über die sogenannten letzten Dinge, nicht gibt. Wer dennoch auf Offenbarung pocht - sei er Christ, Muslim oder Hindu -, ist ein Obskurant. Und, was noch schlimmer ist, er versündigt sich an seinen Mitmenschen, weil er mit der Berufung auf eine ihm zuteil gewordene Offenbarung jedes Gespräch willkürlich abschneidet.

Es ist eine nicht ungefährliche Drückebergerei, wenn die offiziellen Vertreter aller großen Weltreligionen angesichts der Gewaltexzesse im Namen ihres Gottes fast immer nur von Missbrauch reden, Missbrauch der Religion, Missbrauch der Bibel, Missbrauch des Koran etc., als wären die Religionen und ihre heiligen Texte an sich durch und durch friedlich und menschenfreundlich, als handele es sich bei den heiligen Kriegern nur um ein paar Schwarze Schafe, wie es sie nun einmal überall gebe. Nein, so ist es leider nicht. Die intoleranten Fundamentalisten und aggressiven Gotteskrieger konnten und können sich durchaus auf die Bibel, den Koran und die meisten anderen heiligen Schriften berufen, sie denken und handeln in einer Tradition, die den großen Glaubensgemeinschaften so fremd nicht ist, wie sie zumeist tun. Und wenn wir ehrlich sind, dann werden wir zugeben: in uns allen steckt etwas von einem fanatischen Gotteskrieger. Warum - zum Teufel oder in Gottes Namen! - sollen wir, die Tugendhaften, das Böse tolerieren, statt, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, es ein für allemal auszurotten? Haben wir nicht alle schon mal in unseren pubertären Phantasien oder angesichts der täglichen Fernsehbilder von terroristischen Anschlägen von einem solchen großen Befreiungsschlag geträumt?

Es ist eine fromme Lüge, dass die Religion uns friedlicher gemacht habe. Was die frühen Aufklärer uns einzuschärfen versuchten, gilt es heute wieder ins Bewusstsein zu heben: Monotheistische Offenbarungsreligionen sind der Tendenz nach intolerante, meistens sogar - latent oder offen - kriegerische Religionen. Sie bedürfen der gründlichen Selbstkritik und Selbstreinigung, wenn sie für die Demokratie und das friedliche Zusammenleben der Menschen tauglich gemacht werden sollen. Und sie bedürfen der Einhegung durch eine aufgeklärte Kultur der Zivilität und eines über den Glaubensgemeinschaften stehenden Rechts. Umso gefährlicher ist es, wenn heute in den USA ein protestantischer Bischof unter dem Beifall von Millionen Christen sagen kann: "Die Trennung von Kirche und Staat ist eine Fiktion. Die Nation ist das Reich Gottes, und damit basta!" (So der protestantische Bischof von West Palm Beach in Florida, Harold Ray.)

Die Enzyklika Deus caritas est des neuen Papstes, in der der rachsüchtige, grausame Kriegsgott des Alten Testaments und der Apokalypse gar nicht mehr vorkommt, die den christlichen Gott als Quell und Inbegriff der Liebe versteht, ist angesichts der sich heute wieder ausbreitenden religiös gespeisten Gewalt und Intoleranz zweifellos begrüßenswert. Aber eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen barbarischen Tradition und den eigenen Unfehlbarkeitsansprüchen vermisst man auch hier. Stattdessen hat Benedikt XVI. mit seiner Regensburger Rede und durch die unglückliche Verwendung eines Zitats aus dem 15. Jahrhundert den Eindruck erweckt, der entscheidende Unterschied zwischen dem Christentum und dem Islam bestehe darin, dass das Christentum sich vom Logos, von der Vernunft, leiten lasse und daher die Verbreitung des Glaubens mit Feuer und Schwert prinzipiell ablehne, während der Islam, weil seiner Gottesvorstellung die Vernunftbindung fehle, zu Gewalt und Intoleranz neige. Wäre dies tatsächlich die Meinung des Papstes, was ich nicht hoffe, dann müsste man sagen: Eine groteskere Verzerrung der historischen Tatsachen - siehe die Kreuzzüge, die Reconquista in Spanien, die Ketzer- und Hexenverfolgung - ist kaum denkbar.

Gerade heute, da überall auf der Welt - keineswegs nur im Islam! - ein aggressiver Fundamentalismus wieder um sich greift, der die scham-loseste Bevormundung anderer Menschen, der die Herabsetzung und Verfolgung Andersgläubiger, der Mord und blutige Terrorakte als Vollstreckung göttlichen Willens versteht und der seine Kriege wieder im Namen Gottes führt, ist es wichtig den Blick für die lebensfeindliche, barbarische Seite der Religionen zu schärfen. Zweifellos benötigt der Islam, besonders im Iran und in großen Teilen der arabischen Welt, heute dringend eine kritische Revision, wie sie Reformation und Aufklärung für das Christentum - zumindest ansatzweise - geleistet haben. Aber angesichts des Zulaufs, den christliche Evangelikale, zungenredende Pfingstler und dogmatische Dispensionalisten nicht nur in den USA, sondern auch bei uns haben, angesichts der Tatsache, dass auch die Vertreter christlicher Glaubensgemeinschaften, allen voran die so mediengewandten katholischen Hierarchen, neuerdings wieder den Raum der Öffentlichkeit in unangemessener Weise zu besetzen trachten, meine ich: Auch das verfasste Christentum bedarf einer - erneuten und gründlicheren - kritischen Revision!

Dies muss nicht dazu führen, dass man in säkularistischem Übereifer der Religion als solcher ihr Recht abspricht. Ich weiß wohl, dass es auch einen Dogmatismus der Vernunft gibt: die als Rationalismus verkleidete Geschichtsmetaphysik des Marxismus-Leninismus beispielsweise, der glaubte den Gang der Geschichte zweifelsfrei erkennen zu können, oder der platte Szientismus unserer Tage, der vorgibt, alle Rätsel des Lebens und der Existenz mit naturwissenschaftlichen Mitteln lösen zu können. Gegenüber einer philisterhaften Verengung der ursprünglich offenen und selbstkritischen Aufklärung gilt es zu betonen, dass es durchaus kein Ausweis besonderer Vernünftigkeit ist, wenn man die Grenzen der Vernunft nicht zu erkennen vermag. Nicht nur der religiöse Dogmatismus, jeder Dogmatismus ist eine gefährliche Anmaßung, und wo diese Anmaßung handlungsleitend wird, vergiftet sie das Zusammenleben der Menschen und führt zu Intoleranz und Gewalt.

Jürgen Habermas hat in seiner Rede anlässlich der Entgegennahme des Friedenspreises 2001 unsere Gesellschaft - mit einem unüberhörbaren normativen Nebensinn - als postsäkulare Gesellschaft bezeichnet und sich für ein pragmatisches Arrangement zwischen Religion und säkularer Wissenschaft ausgesprochen. "Bisher", so Habermas, "mutet der liberale Staat nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Teile aufzuspalten." Dies führe aber zu einem "unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit", der umso unberechtigter und am Ende wohl auch schädlicher sei, als damit auch die religiösen Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verleugnet würden. Unsere Gesellschaft würde sich nur dann "nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden, wenn sich auch die säkulare Seite einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrt."

In einer 2005 erschienenen Aufsatzsammlung unter dem Titel Zwischen Naturalismus und Religion hat Habermas diesen Grundgedanken genauer ausgeführt. Über das postsäkulare Bewusstsein heißt es dort: Unter agnostischen Prämissen enthält es sich einerseits des Urteils über religiöse Wahrheiten und besteht (in nicht-polemischer Absicht) auf einer strikten Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen. Auf der anderen Seite wendet es sich gegen eine szientistisch beschränkte Konzeption von Vernunft und den Ausschluss der religiösen Lehren aus der Genealogie der Vernunft.

Kein Zweifel, ein weises Arrangement. Ich selbst freilich kann mich nicht immer des Urteils über religiöse Wahrheiten enthalten, zum einen, weil ich mir der religiösen Wurzeln unserer säkularen Ordnung durchaus bewusst bin und daher immer auch Betroffener bin, und zum andern, weil einige dieser religiösen Wahrheiten - vielleicht sollte ich besser sagen: dieser angeblichen religiösen Wahrheiten - sich bis heute immer wieder als Quelle oder Deckmantel menschenverachtender Praktiken erweisen. So sehr ich Habermas zustimme, dass wir dem Religiösen nicht in säkularistischer Arroganz jedes Recht auf öffentliche Artikulation absprechen sollten, so entschieden bin ich allerdings der Meinung, dass im öffentlichen meinungsbildenden Diskurs die Berufung auf ein geoffenbartes Wissen illegitim ist und bleiben sollte. In der Demokratie steht der öffentliche Raum zuerst und vor allem dem Citoyen und der ihm eigenen Diskursform der Deliberation, allenfalls in zweiter Linie dem Gläubigen und seinen bekennenden Zeugnissen offen. Ich sehe keinen Grund, hieran etwas zu ändern.

Meine eigene Auffassung von Religion und Religiosität hat weniger mit Wahrheiten als mit einer Haltung und der sich daraus ergebenden Lebenspraxis zu tun. Was die berühmt-berüchtigten letzten Dinge angeht, tappe ich - ich gebe es zu - vollständig im Dunkeln. Aber das heißt keineswegs, dass ich moralisch orientierungslos wäre, dass ich nicht wüsste, worin meine Verantwortung mir selbst und meinen Mitmenschen gegenüber besteht. Und wenn ich, was oft genug geschieht, nicht tue, was ich nach eigener Überzeugung tun sollte, dann weiß ich doch wohl, dass es mir nicht hilft, wenn ich mich hinter Sachzwängen oder vornehmer ausgedrückt: hinter der Eigenlogik gesellschaftlicher Teilsysteme verstecke, wie das jene Herren in den Chefetagen der großen Konzerne so gern tun, die mit einem Federstrich tausenden von Menschen die Existenzgrundlage nehmen, oder jene Politiker, die im Namen ökonomischer und fiskalischer Vernunft den Ärmsten immer neue Lasten aufbürden, während sie gleichzeitig den Reichen und Superreichen weitere Vorteile gewähren.

Wahrscheinlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Anmaßung, mit der der moderne globalisierte Kapitalismus die große Mehrheit der Menschen des Schutzes gewachsener Lebensbezüge und systemischer Sicherungen beraubt, um sie ganz der Marktlogik zu unterwerfen, und der sprunghaften Zunahme fundamentalistischer Strömungen und der schrillen Sektiererei, die wir in allen großen Weltreligionen heute beobachten können. Wo die traditionalen Sicherungen zerbröckeln und moderne soziale Sicherungssysteme entweder nicht entwickelt wurden oder sukzessive abgebaut werden, wo die Menschen der globalisierten Ökonomie als einer anonymen Schicksalsmacht mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert sind, haben Scharlatane leichtes Spiel, die dogmatische Ersatzsicherheiten anbieten.

Dabei hat eines die bisherige Geschichte in hinlänglicher Deutlichkeit gezeigt: Wer als Mensch unter Menschen menschlich leben will, der sollte sich lieber an die Zweifler halten und die dogmatischen Alleswisser und selbstgewissen Glaubensathleten meiden. Für uns selbst und für die Welt ist es allemal besser, den Zweifel zuzulassen, ihn nicht zwanghaft abzuwehren, es gelassen zu ertragen, dass unsere Fragen weiter reichen als unsere Fähigkeit, Antworten zu finden. Wenn wir uns das Unheil vergegenwärtigen, das in der Geschichte der Menschheit von denjenigen angerichtet wurde und angerichtet wird, die keine Zweifel haben, die ihre Meinungen und ihre Handlungsanweisungen direkt aus ihnen angeblich zuteil gewordener göttlicher Offenbarung beziehen, dann sollten wir uns in unseren privaten und öffentlichen Angelegenheiten vielleicht doch lieber an die halten, die ihren Verstand benutzen und eben deswegen auch wissen, wo er gültige Antworten schuldig bleibt.

Zweifeln heißt keineswegs verzweifeln. Zweifel und Hoffnung, Zweifel und Lebensfreude, Zweifel und soziales wie politisches Engagement gehen, wie das Beispiel der großen Skeptiker zeigt, durchaus zusammen. Der Zweifel, nicht die geoffenbarte Gewissheit ist nach meiner Auffassung auch der Grund einer echten, menschengerechten, nicht-dogmatischen Religiosität. Sie kann dort wachsen, wo Menschen, gerade weil sie ihr eigenes Leben und das Zusammenleben mit anderen vernünftig zu regeln suchen, unvermeidlich auch die Grenzen der Rationalität und der eigenen Gestaltungsmacht erfahren.

Ist eine so verstandene Religiosität postsäkular? Wenn man den Begriff nicht im Sinne einer historischen Epochenabfolge versteht, vielleicht. Denn mir scheint sie in der Tat die natürliche Frucht eines aufklärerischen, säkularen Denkens zu sein, das seine eigene Bedingtheit und seine eigenen Grenzerfahrungen nicht verleugnet.

Anfang der 90er Jahre habe ich in der Evangelischen Akademie im nahen Tutzing Zehn Thesen über Religion und Religiosität gerichtet an die Frommen unter ihren Verächtern vorgetragen. Der Titel, eine Anspielung auf den romantischen Platonübersetzer, Philosophen und Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, machte die kritische Stoßrichtung deutlich. Es ging mir darum, gegenüber den selbst-gefälligen, sich besitzstolz auf ihren Gott berufenden, aber gegenüber ihren Mitmenschen oft erstaunlich gleichgültigen Frömmlern an eine den Menschen und dem Leben zugewandte Auffassung von Religion und Religiosität zu erinnern.

Seitdem bin ich immer wieder von beiden christlichen Kirchen, der protestantischen und der katholischen, zu Vorträgen und Diskussionen über religiöse Fragen, über die Verantwortung der Christen und ihrer Kirchen, über meine eigene Haltung zur christlichen Überlieferung eingeladen worden. Ich, der ich keiner Kirche angehöre und auch nicht vorhabe, an diesem Zustand etwas zu ändern, habe diese Einladungen zumeist angenommen, weil ich überzeugt bin, dass die Denkanstöße aus dem Christentum in unserer modernen Welt noch immer weiter wirken, dass auch in einer auf den ersten Blick so weitgehend säkularisierten Gesellschaft wie der unsrigen, der metaphysische Spürsinn den Menschen nicht gänzlich abhanden gekommen ist und die Frage nach dem Grund unserer Existenz weiter die Köpfe und Herzen bewegt. Viel wird meiner Meinung nach davon abhängen, wie unsere Gesellschaft mit den unterschwelligen und heute wieder verstärkt offen zu Tage tretenden religiösen Suchbewegungen umgeht, ob sie sie ernst nimmt oder in szientistischem Hochmut der Lächerlichkeit preisgibt, vor allem aber, ob sie die Kraft hat, zu ertragen, dass wir auf viele legitime Fragen keine gültigen Antworten haben, oder denen auf den Leim geht, die vom Handel mit geoffenbarten Gewissheiten nicht lassen können.

Vor einigen Jahren wurde ich zu einer pastoralen Weiterbildung in der Hochschule Augustana in Neuendettelsau eingeladen. Vier Tage lang war ich mit einer Gruppe evangelischer Pfarrer zusammen, las ihnen Gedichte vor und Passagen aus Prosaarbeiten, diskutierte mit ihnen, saß abends beim Essen oder bei einem Glas Wein mit ihnen zusammen. Was diese Menschen mir sympathisch machte, war, dass sie sich ihrer Sache gar nicht so sicher waren, wie man als Außenstehender zunächst annehmen würde. Es waren Suchende, nachdenkliche, selbst-kritische Suchende, die, durch ihre tägliche Arbeit in den Gemeinden längst mürbe geworden, dennoch das Fragen nicht lassen mochten. Besonders angenehm war mir, dass sie bis auf ganz wenige Ausnahmen frei von jener breiigen Theologengeschwätzigkeit waren, die mir schon immer auf die Nerven gegangen ist, von der ich, wenn ich frömmer wäre, als ich bin, vielleicht sagen würde, dass es sich dabei um eine besonders perfide Art von Gotteslästerung handelt.

Es gibt in den christlichen Kirchen - wenn ich mich genauer auskennte, könnte ich wahrscheinlich sagen: in allen Religionsgemeinschaften - eine große Zahl von Menschen, die ihre religiösen Überzeugungen in erster Linie als Aufruf zu sozialem Engagement, zur Verteidigung der Menschenrechte und zur Arbeit für die friedliche Verständigung zwischen den Völkern, Kulturen und Religionen verstehen. Diesen religiösen Humanisten fühlte ich mich stets nahe. Aber heute werden sie in den eigenen Reihen von zwei Seiten bedrängt, von den neuen Fundamentalisten und von den ökonomistischen Modernisierern. Die Fundamentalisten machen aus der Religion ein System von Glaubenssätzen und reduzieren Religiosität auf Rechthaberei. Die ökonomistischen Modernisierer möchten alle Lebensbereiche der ökonomischen Logik unterwerfen. Sie verstehen die Kirche als ein Dienstleistungsunternehmen unter anderen, das sie am liebsten auf das Kerngeschäft der Verkündigung und der rituellen Lebensbegleitung beschränken möchten.

Ich glaube, dass beide Tendenzen, die stumpfsinnige Wortklauberei der Fundamentalisten und die Banalisierung der Religion durch die ökonomistischen Modernisierer der condition humaine und dem berechtigten Grundanliegen der Religion diametral widersprechen. Die Religion, wenn sie sich recht versteht, ist nicht ein Teilsystem unter anderen im Kontext einer arbeitsteiligen Gesellschaft, zuständig für Tiefsinn und selbstquälerisches Sündenbewusstsein, erst recht nicht ein Anbieter unter anderen auf einem Seelsorge- und Wellnessmarkt. Sie steht nicht in der Konkurrenz zu den Verkäufern von Spannung, Spaß und Spiel, von praktischen Steuerspartips, Tips für ein glückliches Sexualleben und Patentrezepten für ein Instant-Rundum-Wohlbefinden. Es geht der Religion um die Deutung der Existenz, um den Sinn all unserer menschlichen Bemühungen, nicht um ein Zusatzangebot in einem Marktsegment. Genau so wenig kann die Religion uns das eigene Denken und die individuelle Verantwortung für unser Tun abnehmen. Ihre heiligen Texte sind nicht Gottes Wort, wie die Fundamentalisten meinen, sondern Menschenwerk, voller anrührender Geschichten und tiefer Einsichten, aber auch voller Widersprüche, gedankenlos tradierter Dummheiten und gefährlicher Scheußlichkeiten. Wortwörtlich genommen, taugen sie weder als Anleitung zu moralischem Handeln noch als Quelle von Weissagungen über die Zukunft der Menschheit.

In der Religion, wie ich sie verstehe, geht es in erster Linie um das Geheimnis der Existenz, um das ungelöste, uns lockende und verstörende Geheimnis der Existenz. Darin ist sie der Kunst und der Poesie verwandt. Dass wir in diesen Dingen immer mehr Fragen als Antworten haben werden, spricht nicht gegen die Legitimität der Fragen. Aber ein wenig mehr Bescheidenheit, wenn es um die letzten Dinge geht, erscheint mir angesichts dieser Lage durchaus angemessen. Für mich jedenfalls hat die exhibitionistische Gläubigkeit fundamentalistischer Prediger etwas zutiefst Abstoßendes, und ich bezweifle, dass kirchliche Großevents wie die Kirchentage, der Weltjugendtag in Köln oder der Papstbesuch in Bayern als Zeichen einer wieder erwachenden Religiosität gedeutet werden können. Spiritualität heißt das Modewort, mit dem manche der Party-Stimmung, die sich bei solchen Gelegenheiten einstellt, eine besondere Weihe geben möchten. Aber hinter dieser Art von Spiritualität verbirgt sich allzu oft nur religiös drapierter Unterhaltungskitsch - und das Bedürfnis, das eigene Ich im Zusammenhang mit einem Medienevent publikumsgerecht aufzuwerten. Mit wirklicher Religiosität haben alle diese exhibitionistischen Bekenntnisformen, unter Einschluss ihrer Extremform in den grauenhaften Bekennervideos islamistischer Selbstmordattentäter, nichts zu tun.

Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. (1. Korinther 13)

Aus dem Hohenlied der Liebe im ersten Korintherbrief spricht ein anderer Geist als der, der sich heute rechthaberisch und egozentrisch kokett, eifernd und unduldsam als vermeintliche Renaissance des Religiösen in die Medienöffentlichkeit drängt.

Für mich ist Religiosität eine Grenzerfahrung, eine Erschütterung, etwas, das mir die Sprache verschlägt, weil es an das rührt, was sich meinem Begreifen entzieht.
In der Religion, wie ich sie verstehe, geht es um Ehrfurcht vor dem Leben, vor der Würde eines jeden Menschen, vor der Wahrheit, die sich uns nie ganz erschließt.
Es geht um das Wunder der Liebe, um Nachsicht mit der Unvollkommenheit der Menschen, um die Schönheit der Welt und die Unbegreiflichkeit von Hass und Zerstörung, um die Dummheit der Wissenden und die Weisheit der Zweifelnden.
Kurz: Religion, wie ich sie verstehe, ist das, was als Möglichkeit in den Blick kommt, wenn wir durch das Abenteuer der Vernunft gegangen und an unsere Grenze gelangt sind.

Ist das alles? Für mich ist es eine ganze Menge, so viel, denke ich, wie wir als unvollkommene Menschen ehrlicherweise erwarten dürfen, und allemal genug, um ein Menschenherz auszufüllen wie der Kampf gegen Gipfel, von dem Albert Camus im Mythos von Sisyphos erzählt.

Jede tiefere Religiosität wird denkend,
jedes wahrhaft tiefe Denken wird religiös.

Albert Schweitzer, Arzt und Philosoph (1875-1965)

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Humanistische AKTION  
2/2005
 


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Aktualisiert am 24.04.12